Finanzmärkte ohne Spekulationen Investment-Boom Gold und seine Geschichte
Was wären die Finanzmärkte ohne Spekulationen! Wahrscheinlich wären sie langweilige Oasen der Ordnung und Bürokratie. Ohne Spekulationstriebe hätte es keinen Investment-Boom in den neunziger Jahren und keinen Aktienwahn gegeben. Die gleichen Triebkräfte bewegten nach den Aktien die Anleihemärkte. Was bei Aktien die „gehebelten“ Geschäfte mit kreditfinanzierten Käufen waren, das sind bei den Anleihen die „carry-trades“. Unter Carry-Trade versteht man ein Geschäft, für welches man sich billiges Kurzfrist-Geld leiht, um es gewinnbringend in besser rentierliche Anleihen, z.B. in qualitativ gute Unternehmensanleihen oder gar Junk-Bonds zu investieren. Der Charme bei diesem Vorgang liegt im so genannten „Hebel“: mit wenig oder im Extremfall sogar mit Null Eigenkapital lässt sich bei günstigen Marktbedingungen viel Geld verdienen. Die Betonung liegt auf „günstige“ Marktbedingungen.
Wann und wie lange die Bedingungen günstig sind, wissen allerdings nur die wenigsten Mitspieler im Carry-Trade-Spiel. Solange die Zinsen weiter fallen, kann man fast risikolos mitspielen. Irgendwann jedoch wendet sich das Blatt. Sobald eine Zinserhöhung in Sichtweite kommt, kippt das System, da die ersten Spekulanten ihre Positionen auflösen und versuchen, mit Gewinn auszusteigen.
Ab diesem Zeitpunkt gilt das im oben genannten Abschnitt zitierte Sprichwort, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Wer dann verkauft, wenn alle verkaufen, der erzielt die gleichen Resultate wie alle anderen. Meistens jedoch schlechtere! Da der Anleihemarkt sehr stark von geliehenem Geld angetrieben wird, tickt im weltweiten und vor allem im amerikanischen Bondmarkt eine gewaltige Zeitbombe. Bei der kleinsten Andeutung einer möglichen Zinserhöhung kann die Bond-Blase zerplatzen und massive Kurstürze bei den Anleihen auslösen.
Genauso viel Sprengstoff liegt in den Derivate-Geschäften der Banken. Derivate stellen Versicherungen dar. Sie werden verwendet, wenn sich z.B. ein Landwirt im Frühjahr das Recht erkauft, im Herbst seine Ernte zu einem bestimmten Preis zu verkaufen. Dadurch sichert er sich gegen einen möglichen Preisverfall seiner Produkte in der Zukunft ab. Diese so genannten Termingeschäfte haben sich auf den Rohstoffmärkten schon lange bewährt und deshalb wurden solche Konzepte der Preisabsicherung auch auf die Finanzmärkte übertragen. Heute sichern sich Banken oder Unternehmen, die umfangreiche Auslandsgeschäfte tätigen, über Derivate gegen Wechselkursschwankungen ab, damit beispielsweise Unternehmensgewinne nicht durch Kursverluste eines fallenden Dollars aufgezehrt werden. Diese Instrumente können den Firmen und Finanzinstituten Sicherheit und Stabilität verleihen, da mit ihnen Risiken gestreut und minimiert werden, wenn sie richtig und maßvoll eingesetzt werden.
Wie bei vielen Dingen im Leben kann ein zu viel des Guten schädlich sein. Und genau wegen dieses „zu viel“ braut sich seit geraumer Zeit einiges im Derivate-Markt zusammen. Absicherungsgeschäfte haben den Charakter von Wetten, denn sie funktionieren immer nur dann, wenn jemand bereit ist, ein bestimmtes Risiko zu übernehmen. Die finanziellen Risiken, die eine Bank oder ein Unternehmen tragen kann, sind jedoch stets begrenzt, ganz gleich, wie hoch die Kapitaldecke auch ist. Viele Banken nutzen inzwischen die Derivate weit über ihre Schutzfunktion hinaus – sie verwandeln sie in Instrumente, um spekulative Gewinne mit Kreditrisiken oder im Währungspoker zu erwirtschaften. In Zeiten wie den jetzigen können sich jedoch erhoffte Gewinne leicht in reelle Verluste verwandeln. Außerdem gehören zu einem Geschäft immer mindestens zwei Partner. Jeder dieser Geschäftspartner nimmt an, dass der andere die Wettschuld zahlen wird.
Was aber passiert, wenn der Mitspieler zahlungsunfähig wird? Diese Frage stellen sich auch immer mehr Kritiker dieser Instrumente. Einer ihrer prominentesten Vertreter ist der Groß-Investor Warren Buffet, der sehr wenig von Derivaten hält. Die Kritiker bemängeln insbesondere, dass es den Finanzaufsichtsbehörden weltweit bisher nicht gelungen ist, das Ausmaß möglicher Probleme des Finanzsystems durch Kreditderivate zu erfassen. Bei Kreditderivaten gehen Banken meist im großen Stil Absicherungsgeschäfte für laufende oder geplante Kredite ein, beispielsweise um sich gegen Kreditausfälle oder gegen steigende oder fallende Zinsen abzusichern. Allerdings weiß zur Zeit niemand genau, wo und wie Kreditderivate überall eingesetzt werden und wo das Kreditrisiko schließlich landet (13). Genauso wie bei Rohstoff- und Währungsgeschäften müssen auch bei Geschäften mit Kreditderivaten mindestens zwei Parteien mitspielen. Wenn einer der Marktteilnehmer eine zu dünne Eigenkapitaldecke besitzt, kann er die eingegangene Wette nicht halten und das Geschäft platzt.
Zurzeit besitzt die im Derivatehandel führende Investmentbank J.P. Morgan Chase Derivate im Wert von über 25 Billionen US-Dollar. Das entspricht mehr als dem 2,5-fachen des gesamten Bruttoinlandsprodukts der Vereinigten Staaten von Amerika. Insgesamt besitzen alleine die US-Banken Derivate mit über 50 Billionen Dollar. Die Problematik liegt darin, dass schon geringe Bewegungen an den Finanzmärkten einen Verlust von ein paar 100 Milliarden Dollar bringen können und diese Risiken sind in den letzten Jahren enorm angewachsen. Laut Schätzungen der britischen Bankenvereinigung verdoppelte sich der weltweite Handel alleine mit Kreditderivaten in 2002 auf rund 2000 Mrd. US-Dollar. Experten erwarten für 2004 eine weitere Verdoppelung (14).
Der ursprüngliche Gedanke, über Derivate Risiken abzufangen und Stabilität in die Märkte zu bringen, spielt im heutigen Derivategeschäft nur noch eine nebengeordnete Rolle. Die Hauptrolle spielt der Handel an sich. Der Derivatehandel hat sich verselbständigt und ist zum Spekulationsmechanismus geworden. Der Bezug zur realen Wirtschaft, zu realen Import- und Exportgeschäften ist weitgehend verloren gegangen. Winzige Wechselkursänderungen genügen, um bei einem entsprechend hohen Einsatz stattliche Gewinne zu erzielen. Erwarten z.B. Devisenhändler aufgrund einer unmittelbar bevorstehenden Zentralbanksitzung eine Senkung oder eine Erhöhung der amerikanischen Leitzinsen und damit eine Kursänderung des Dollars, so kaufen sie diese Währung über Derivate zu einem bestimmten Euro-Dollar-Wechselkurs. Mit ein bisschen Glück können sie schon bald nach Bekanntgabe der US-Zinsen mit Gewinn verkaufen, wenn sich der Dollarkurs in die erwartete Richtung bewegt hat.
Täglich werden Devisen im Wert von etwa 1,2 Billionen Dollar um den Globus gejagt, um auf Knopfdruck am Handelscomputer an der vierten Nachkommastelle Gewinne einzufahren. Eine Änderung des Euro-Dollar-Wechselkurses von 1,1499 auf 1,1500 ergibt bei einem Einsatz von 100 Millionen Euro innerhalb von Sekunden einen Gewinn oder Verlust von 10000 Euro – je nachdem, in welche Richtung man spekuliert hat. Ein kleiner Irrtum oder eine gravierende Fehlentscheidung können eine Großbank sehr schnell in den Ruin treiben. Die ehrwürdige britische Barings Bank erlebte dieses Schicksal, als sie 1995 durch die Fehlspekulation eines einzelnen Angestellten in den Konkurs getrieben wurde. Eine einzige große Bankenpleite heutzutage könnte eine Kettenreaktion auslösen und das Startsignal für eine Finanzkrise oder einen Zusammenbruch der amerikanischen und europäischen Aktienmärkte sein. Der einzige sichere Hafen ist dann Gold.